Lido

Lido - Julius Voegtli

„Umwelt“ ist ein im Deutschen heute viel verwendetes Wort. Es stammt aus der Biologie und wurde von Jakob von Uexküll geprägt, um die Welt zu bezeichnen, wie sie von einem Tier aus wahrgenommen wird (1934, S. 5). Dies war eine Revolution in der menschlichen Kultur und betraf Heidegger in seiner Kritik an der westlichen Zivilisation und Überhöhung des Menschen. Im Laufe der Geschichte hat die westliche Philosophie den Menschen als Zentrum und die anderen Arten als Rand betrachtet. In dieser kartesischen Sichtweise gab der Mensch seiner Gattung die Erlaubnis, in die Natur einzudringen und sie zu seinem Sklaven zu machen. Bei dieser Manipulation wurden Tiere in medizinischen Labors, auf Farmen, in der Industrie usw. eingesetzt, um die Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen. Descartes nannte sie „seelenlose Maschinen“ (Cottingham, 1992, S. 242). Uexküll war der erste Schriftsteller, der fragte: Wie lebt es sich mit den Augen eines Kaninchens, einer Zecke oder eines Hundes?

Julius Voegtli lebte gleichzeitig mit Jakob von Uexküll und war möglicherweise mit seiner Theorie vertraut. In Lido porträtiert er ein weißes Pferd, das an einem schweren Wagen auf einer Kopfsteinpflasterstraße befestigt ist. Das Pferd hat den Hals gedreht, um zurückzublicken, aber die Augen sind durch Scheuklappen verschlossen. Was sucht das Pferd mit geschlossenen Augen? Zwei Antworten können gegeben werden: den schweren Wagen oder den Fahrerplatz. Ist es akzeptabel zu behaupten, dass Pferd und Reiter so nahe beieinanderstehen, dass der Mangel an einem den anderen reagieren lässt? Oder ist es richtig, die Drehung des Pferdes im Nacken als Zeichen des Widerspruchs gegen die zu tragende Belastung zu analysieren? Oder einen Protest gegen seine Scheuklappen? Oder dreht sich der Kopf wegen des direkten, störenden Sonnenscheins? Diese Antworten werden alle aus anthropometrischer Sicht gegeben. Was ist, wenn man tief in den Geist und das Leben des Pferdes eindringt? Es scheint, dass Voegtli das Ziel hat, die westliche Kultur zu dekonstruieren, indem er den Leser dazu bringt, sich Fragen wie diese letzte zu stellen.

Betrachtet man das Gemälde nun mechanisch, so wird man feststellen, dass es in zwei Teile unterteilt ist: die rechte Seite mit Bäumen und Pferden und die linke mit Gebäuden und Wagen. Offensichtlich stehen die Bäume ihrer Anzahl, ihrer Stellung nach symmetrisch zu den Gebäuden. Was diese beiden Seiten trennt, sind zwei Männer, die in der Mitte, aber etwas weiter entfernt stehen (gesehen, wenn man genau hinter den Sattel schaut). Das logische Ergebnis dieser Klassifizierung ist, dass der Mensch eine Trennung zwischen Natur und Kultur vorgenommen hat. Das Pferd, das zur Natur gehört, wird vom Menschen dazu gebracht, schwere Lastpakete mit geschlossenen Augen zu tragen; Bäume sind gepflanzt und durch eine Kopfsteinpflasterallee begrenzt. Eine große Menge an Blau wurde verwendet, um die Ruhe der Natur zu kennzeichnen und um eine

Symmetrie mit dem Grün der Bäume und irgendwie mit dem Weiß von Pferd, Kutsche und Gebäuden herzustellen. Das stille und unbewegliche Stehen des Pferdes auf der Straße zeigt auch, dass dieses vom Menschen gezähmt wird, sinnbildlich dargestellt durch die Gebissklammer, den Sattel und den gebeugten Hals des Tieres.

Der Maler möchte den Betrachter des Bildes fragen, ob er sich vorstellen kann, wie ein Pferd zu empfinden und zu denken. Sucht es nach einem Reiter? Oder einer Kutsche? Auf diese Weise fordert er die gesamte westliche Kultur und ihren Humanismus heraus. Das ist vielleicht der Grund, warum Männer kleiner und entfernter als das Pferd gemalt sind, obwohl sie zahlreicher und leistungsstärker sind.

Quelle: Tavousi, Sohrab (2022) „Über das Kunstwerk Lido“, in: JULIUS VOEGTLI: Ein Schweizer Pionier des Impressionismus, Herausgegeben von Nour Nouri & Davood Khazaie, Pashmin Art Publisher, S.54-55.

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